4. Kapitel


Am nächsten Nachmittag hatte Frieda babyfrei und außerdem hatten sie kaum Schularbeiten auf. Also ideale Bedingungen für ein wunderbares Bandentreffen. 

Um drei Uhr saßen sie alle gespannt um Oma Slättbergs Küchentisch herum und warteten auf Sprottes Geheimnis. Durch das offene Küchenfenster schien die Sonne herein, eine Elster schimpfte irgendwo und die Bienen summten in der Linde vor dem Haus.

Sprotte räusperte sich, guckte in die Runde - und schwieg noch ein paar wirksame Sekunden lang, um die Spannung zu steigern.

»Na, nun leg schon los«, sagte Melanie ungeduldig. 

»Ja, bitte!«, sagte Trude mit vollem Mund. Sie verdrückte gerade ein gewaltiges Wurstbrötchen. 

»Soll ich noch Tee kochen?«, fragte Sprotte. 

»Nein«, sagte Frieda und grinste. »Fang endlich an.« 

Sprotte griff in die Hosentasche, holte Oma Slättbergs Schlüssel und den Zettel heraus und legte beides mit bedeutsamer Miene auf den Tisch. Dann las sie den Zettel, etwas gekürzt, vor.

»Na, du scheinst ja 'ne nette Oma zu haben«, sagte Melanie, als Sprotte fertig war.

»Das Geheimnis ist der schwarze Schlüssel, nicht wahr?«, fragte Trude mit gedämpfter Stimme. Ihre Augen waren vor Aufregung rund wie Mantelknöpfe. Für ein paar Augenblicke hatte sie sogar ihr Brötchen vergessen. 

»Gestern Abend, als ihr weg wart, hab ich alle Schlösser ausprobiert, die ich finden konnte«, sagte Sprotte. »Nichts.« »Meinst du, deine Oma hat hier irgendwo einen Schatz versteckt?«, flüsterte Trude.

»Mensch, wieso flüsterst du denn so?«, fragte Melanie. »Glaubst du, Sprottes Oma steht im Schrank, oder was?« Trude wurde rot und biss sich auf die Lippen.

 »Wahrscheinlich ist es kein Schatz, sondern eine völlig vergammelte Leiche«, sagte Frieda. »Ist dein Opa ganz plötzlich verschwunden oder so was?« 

»Blödsinn!« Ärgerlich schüttelte Sprotte den Kopf. 

»Na, wenn ich den Zettel so lese«, Melanie kicherte, »dann würde ich deiner Oma ganz schöne Gemeinheiten zutrauen.« Draußen gackerte ein Huhn wie verrückt los. Mit gerunzelter Stirn sah Sprotte zum Fenster.

»Was denkst du denn, warum sie so ein Geheimnis um den Schlüssel macht?«, fragte Frieda. Den ganzen Heimweg hatte sie sich gestern den Kopf darüber zerbrochen. Aber alles, was dabei herauskam, war, dass Sprottes Oma ihr langsam unheimlich wurde.

»Wahrscheinlich ist er nur für eine Schublade, in der deine Oma ihre geheimen Keksrezepte versteckt«, sagte Melanie. Sprotte guckte immer noch zum Fenster. Plötzlich stand sie auf und schlich vorsichtig darauf zu. Fragend sah Frieda sie an. »He, was ist ...?«

Warnend legte Sprotte den Finger auf die Lippen. 

»Also, wahrscheinlich ist an dem Schlüssel überhaupt nichts Geheimnisvolles!«, sagte Melanie laut, während sie ebenfalls aufstand und auf die Haustür zuschlich. 

»Nee, bestimmt nicht!«, sagte Frieda und pirschte sich auch zum Fenster. Nur Trude saß noch mit offenem Mund und ihrem Brötchen in der Hand am Tisch. 

Dann brüllte Sprotte plötzlich: »Halt, ihr Spione!«, und sprang mit einem Satz aus dem Fenster. Frieda kam mit ihren kürzeren Beinen nicht ganz so schnell hinterher. Melanie riss die Haustür auf und stürmte hinaus.

Da rappelte auch Trude sich vom Sofa hoch und stolperte ans Fenster. Noch gerade rechtzeitig, um Fred, Torte, Steve und Willi, die vollständige Pygmäen-Bande, über Oma Slättbergs Gemüsebeete davonspurten zu sehen. Sprotte, Frieda und Melanie waren ihnen hart auf den Fersen. Sie hatten sie schon fast erwischt, als Sprotte plötzlich einen Schrei ausstieß und zum Auslauf zeigte.

Das Gatter zum Hühnerauslauf stand sperrangelweit auf. Und der Auslauf war leer.

Die kurze Schrecksekunde der Mädchen rettete die Pygmäen.

Sie kletterten übers Gartentor, schnappten sich ihre Räder und rasten davon.


»Alle weg!«, sagte Sprotte. Ihre Unterlippe zitterte ein bisschen. Ratlos sah sie sich um. Aber die Hennen waren spurlos verschwunden.

Schnaufend kam Trude angerannt. Entsetzt guckte sie in den verlassenen Auslauf. »Vielleicht sind sie im Stall!«, sagte sie.

Sprotte schüttelte den Kopf.

»So eine Gemeinheit!«, stöhnte Frieda. »So eine verdammte Gemeinheit.«

»Komm.« Melanie zog Sprotte am Arm mit sich. »Wo ist das Futter? Vielleicht können wir sie damit anlocken.« 

»Eine ist im Kohlbeet!«, rief Frieda. »Die Gescheckte.«

 »Pass auf, dass sie nicht wegläuft!«, rief Sprotte. »Wir holen das Futter.«

»Wie soll ich das denn anstellen?«, rief Frieda zurück. Aber die anderen waren schon im Stall verschwunden. Also schlich sie sich ganz vorsichtig hinter das Huhn, um ihm wenigstens den Weg zum Gartentor zu versperren. Beunruhigt hob die Henne den Kopf und zwinkerte mit den kleinen Augen.

»Ganz ruhig, gaaaanz ruhig«, murmelte Frieda. 

Die Henne gluckste leise vor sich hin. 

Da kamen die andern drei zurück, Melanie und Trude mit Futter in den Händen. Nervös drehte die Henne sich zu ihnen um. Aber an einem Kohlblatt zupfte sie trotzdem noch mal.

»Komm, Kokoschka, komm!«, sagte Sprotte, während sie sich langsam, ganz langsam ein bisschen näher heranschlich. Melanie warf etwas Futter vor Sprotte auf die Erde. 

»Wir müssen sie umzingeln!«, zischte Sprotte. Also verteilten sie sich. Kokoschka reckte interessiert den Hals. 

»Hockt euch hin!«, raunte Sprotte. »Dann kommt ihr ihr nicht so schrecklich groß vor.« 

»Die kriegen wir nie!«, sagte Melanie. 

»Klar kriegen wir sie. Hühner sind nicht besonders schlau. Wirf ihr noch ein bisschen Futter hin.« 

Langsam, den Hals neugierig vorgereckt, kam die Henne näher. Allerdings sah sie sich immer wieder besorgt nach den andern Mädchen um. Frieda musste sich ein Kichern verkneifen. Dann stand Kokoschka direkt vor Sprotte. Hastig pickte sie die Körner vor Sprottes Füßen auf. Und da packte Sprotte zu. Empört zeterte Kokoschka los, strampelte mit den roten Beinen, ruckte mit dem Hals. Aber Sprotte hielt fest.

»Nummer eins«, sagte sie und warf Kokoschka über den Zaun in den Auslauf, wo sie sich mit beleidigtem Glucksen ein ruhiges Plätzchen suchte. »Aber wo ist bloß der Rest geblieben?«

Verzweifelt sah Sprotte sich um. Die andern hatten sie noch nie so verstört gesehen.

»Ach, die finden wir schon!« Frieda versuchte sie zu trösten. »So weit können sie ja noch nicht gekommen sein.« 

»Du verstehst das nicht!«, rief Sprotte und ihre Unterlippe zitterte. »Meine Oma bringt mich um, wenn eine von den Hennen fehlt.«

»Ach, komm, beruhig dich«, sagte Melanie und tätschelte Sprotte den Arm. »Wegen einem blöden Huhn bringt man doch niemanden um.«

Ärgerlich stieß Sprotte ihre Hand weg.

»Nein, aber ich darf vielleicht nie mehr hierher kommen«, sagte sie barsch. »Kommt, wir suchen weiter.«

Bedrückt folgten die andern ihr.


Huberta und Dolli fanden sie bei der linken Nachbarin im Salatbeet, Emma und Klara auf der anderen Straßenseite im hohen Gras. Die Nachbarin schimpfte wie ein Rohrspatz wegen der zerrupften Salatköpfe, und wegen Emma bekamen sie furchtbaren Ärger mit einem Autofahrer, dem sie vor die Windschutzscheibe flatterte. Nur Isolde blieb unauffindbar.

Zerkratzt, nass geschwitzt und müde gaben die Wilden Hühner die Suche auf und kehrten in Oma Slättbergs Küche zurück. Mitten auf dem Tisch lag immer noch der Schlüsselbund. Aber an dessen Geheimnissen war im Moment keine von ihnen interessiert.

»Wenn ich die erwische«, sagte Sprotte düster.

Melanie warf einen Blick auf die Küchenuhr. »Oh, ich muss nach Hause. Aber einen Augenblick verschnauf ich noch.« »Ich versteh das nicht«, sagte Trude mit kläglicher Stimme. »Woher wussten die, dass wir uns heute hier treffen?« 

»Na, vielleicht haben wir hier 'ne Verräterin!« Sprotte ließ ihren Blick über die verschwitzten Gesichter wandern. An Melanie blieb er hängen.

Wütend gab Melanie den Blick zurück. »Was guckst du mich so an? Vielleicht hast du dich ja selber verquasselt.« 

Feindselig starrten die beiden sich über den Tisch hinweg an. »Na, ich häng bestimmt nicht dauernd mit den Jungs rum!«, knurrte Sprotte.

»Muss vielleicht jede so 'ne Jungenshasserin wie du sein?«, fauchte Melanie zurück.

»Ach, hört doch bitte auf!«, rief Trude, den Tränen nah. 

»Ja, Schluss jetzt!« Wütend haute Frieda auf den Tisch. 

»Dieses Verrätergerede ist doch völliger Quatsch. Jeder von den Jungs weiß, wo Sprottes Oma wohnt. Sie brauchen bloß einer von uns gefolgt zu sein. Ihr wisst genau, was für 'n Spaß sie an solchem Schwachsinn haben. Außerdem ist Fred schlau genug zu merken, dass wir vier uns plötzlich wieder aufm Klo treffen.« Ärgerlich sah sie Sprotte an. »So genial ist der Treffpunkt nämlich wirklich nicht.« 

Zerknirscht guckte Sprotte auf ihre zerkratzten Hände, »'tschuldigung, Melanie! Ich - ich bin nur so durcheinander, weil Isolde weg ist.«

Melanie zuckte die Schultern und stand auf. »Vergiss es. Mensch, bin ich kaputt. Treffen wir uns morgen wieder?«

»Wenn ihr Lust habt«, sagte Sprotte kleinlaut. Sie guckte immer noch auf ihre Hände.

»Klar, wir wollen doch das Geheimnis des schwarzen Schlüssels ergründen«, sagte Melanie. »Aber jetzt muss ich wirklich los.«

»Hoffendich kommt dein Huhn zurück«, sagte Trude, bevor sie mit Melanie verschwand. 

Sprotte nickte. »Ja, hoffentlich.«

»Kommst du wieder nicht mit?«, fragte Frieda besorgt.

 Unschlüssig stand sie in der Küchentür. »Du kannst bei uns mitessen. Mam hat schon ein paarmal gefragt, wo du isst, wenn deine Oma nicht da ist.«

Müde schüttelte Sprotte den Kopf. »Ich bleib heute Nacht hier und pass auf. Meine Mutter fährt Nachtschicht.« 

»Was? Du willst die ganze Nacht alleine hier sein?« Ungläubig sah Frieda ihre beste Freundin an.

Sprotte zuckte die Schultern. »Klar. Zu Hause wär ich doch auch alleine. Und vielleicht kommt Isolde ja heute Nacht zurück.«

»Ich weiß nicht.« Zögernd blieb Frieda stehen. »Aber musst du ja selbst wissen. Bis morgen dann, ja?« 

»Bis morgen«, sagte Sprotte. Und war wieder allein. Aber das war sie ja gewohnt.